Ärzteschaft: Alkohol

Die Entwicklung einer Abhängigkeit

Entwicklung einer Abhängigkeit

Eine Abhängigkeit kann sich – je nach Suchtmittel und je nachdem, wer konsumiert – schneller oder langsamer entwickeln, früh eintreten oder sich erst in einem späten Lebensabschnitt manifestieren (siehe early-onset und late-onset). Verschiedene Risikofaktoren und Schutzfaktoren auf der Ebene des Individuums sowie seiner sozialen und physischen Umwelt beeinflussen die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung einer Suchtkrankheit. Es gibt keine bestimmte Konsummenge, die anzeigt, dass jemand abhängig ist. Die Übergänge von einem problematischen oder schädlichem Konsum zu einer Abhängigkeit sind schleichend.

Differenzierung der alkoholbezogenen Störung

Eine Abhängigkeit ist eine medizinische Diagnose und wird anhand verschiedener Kriterien festgestellt, die in den internationalen Klassifikationsystemen (ICD-10 und DSM-IV) festgelegt sind. Die medizinische Diagnose der Alkoholabhängigkeit nach dieser Klassifikation ist kategorial, d.h. „ja“ oder „nein“. Die dimensionale Entwicklung vom regelmässigen über den problematischen Konsum bis hin zur Abhängigkeit wird hierdurch nicht abgebildet.

Um der dimensionalen Entwicklung der Abhängigkeit besser gerecht zu werden und den Schweregrad alkoholbezogener Störungen zu beschreiben, kann das folgende Modell herangezogen werden. Die Einordnung des Schweregrades erfolgt hierbei in 6 Stufen (Lieb et al. 2008): Die ersten 3 Stufen definieren sich dabei allein über die Konsummenge, ab Stufe 4 wird der Schweregrad zunehmend durch psychische und/oder soziale Konsequenzen des Substanzkonsums bestimmt. Die Stufen 1 und 2 (Abstinenz und risikoarmer Konsum) stellen den gesunden Normalzustand dar. Die Stufen 3 und 4 sind gesundheitsepidemiologisch vor allem unter dem Aspekt des erhöhten Risikos der Entwicklung somatischer Folgeerkrankungen von Bedeutung. Die Stufen 5 und 6 sind nach ICD-10 bzw. DSM-IV als psychiatrische Erkrankungen definiert.

Kein Konsum

Risikoarmer Konsum von Alkohol; vgl. auch Trinkmengen.

Ein riskantes Konsummuster liegt vor, wenn die Trinkmenge bestimmte Grenzwerte zwar übersteigt, aber noch keine Gesundheitsschädigung eingetreten ist. Gemäss Empfehlungen der WHO liegen die Grenzwerte für Männer bei höchstens 2-3 Standardgetränken, für Frauen bei höchstens 1-2 Standardgetränken pro Tag. In der Schweiz entspricht 1 Standardgetränk üblicherweise ca. 12 g reiner Alkohol, dies entspricht ca 3 dl Bier (5 Vol.%), 1.2 dl Wein (12,5 Vol.%), oder 4 cl Schnaps (40 Vol.%) oder 5 cl Likör (30 Vol.%). Die Eidgenössische Kommission für Alkoholfragen EKAL hat in einer Publikation aus dem Jahr 2018 die Empfehlungen nach unten korrigiert. Neu werden daher für Männer 2 Standardgetränke und für Frauen eines pro Tag, bei mindestens zwei alkoholfreien Tagen pro Woche als risikoarm definiert. Die EKAL hält weiter fest, diese Empfehlungen – insbesondere bei älteren Personen – mit Vorsicht und immer unter Berücksichtigung der individuellen Gesundheit anzuwenden.

Die unterschiedlichen Mengenempfehlungen beruhen auf den physiologischen Unterschieden zwischen Frauen und Männern, da beispielsweise der geringere Körperwassergehalt der Frauen zu einer anderen Alkoholverteilung im Körper beiträgt, sodass geringere Mengen bei Frauen grössere Wirkungen zeigen als bei Männern. Die hier abgebildeten Empfehlungen gelten für Erwachsene - jedoch ohne Berücksichtigung des Lebensalters. Sie wurden nicht angepasst an die physiologischen Bedingungen im Alter. Eine Überprüfung der Risikomengen im Hinblick auf Geschlecht und Lebensalter sowie die Berücksichtigung von altersbedingten somatischen oder psychiatrischen Störungen erscheinen dringend erforderlich. Aktuell empfiehlt das US-amerikanische Institut für Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit (NIAAA) keine Überschreitung von einem Standardgetränk bei Menschen über 65 Jahren, bzw. nicht mehr als 7 Standardgetränke pro Woche oder nicht mehr als 3 Standardgetränke pro Trinkereignis zu konsumieren.

Von «problematischem Alkoholkonsum» wird nach internationalen Standards dann gesprochen, wenn durch das Konsumieren von Alkohol die eigene Gesundheit oder diejenige anderer Personen gefährdet wird und entsprechende Schäden in Kauf genommen oder verursacht werden. Problematischer Konsum tritt in folgenden Formen – teilweise kombiniert – in Erscheinung: Rauschtrinken, chronischer Alkoholkonsum, situationsunangepasster Alkoholkonsum. Der problematische Alkoholkonsum wird aus Public-Health-Perspektive (WHO) anders definiert wird als nach den gängigen diagnostischen Manualen (ICD-10; DSM-IV). Allen Systemen gleich ist jedoch, dass der problematische Konsum von der Abhängigkeit klar abgegrenzt wird.

Nach ICD-10 müssen die physischen oder psychischen Schädigungen über einen Zeitraum von mindestens einem Monat oder mehrfach während 12 Monaten vorliegen und eine eigentliche Alkoholabhängigkeit muss ausgeschlossen werden. Alkoholmissbrauch liegt nach DSM-IV vor, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt ist, ohne dass eine Alkoholabhängigkeit vorliegt.

  • Wiederholter Substanzgebrauch, der zu erheblichen Problemen bei wichtigen Verpflichtungen führt, z. B. im Haushalt, in Familie oder in der Schule
  • Wiederholter Substanzgebrauch in gefährlichen Situationen, z. B. Alkohol am Steuer, beim Bedienen von Maschinen
  • Wiederkehrende Probleme mit dem Gesetz wegen Substanzgebrauch
  • Fortgesetzter Substanzgebrauch trotz Problemen, z. B. zwischenmenschlich, soziales Umfeld

Die Diagnose einer Alkoholabhängigkeit erfolgt nach ICD-10 oder DSM-IV. Das Abhängigkeitssyndrom beschreibt eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen, die sich nach wiederholtem Substanzgebrauch entwickeln - siehe Alkoholabhängigkeit nach ICD-10 und DSM-IV.

Early-onset und late-onset

Der Begriff «early-onset» wurde bislang in der wissenschaftlichen Literatur für Menschen verwendet, die frühzeitig, d.h. vor dem 25. Lebensjahr, eine Alkoholabhängigkeit entwickeln (Kutschke 2012). Mit der Überalterung der Menschen und dem zunehmend im Alter erstmals auftretenden problematischen Alkoholkonsum, wurde der Begriff auch für eine meist polymorbide Patientengruppe angewendet, oft mit lang dauernder sozialer Desintegration, mit langer psychiatrischer und suchttherapeutischer Anamnese, gewissermassen für «alt gewordene» Alkoholabhängige. Entzugskomplikationen in Form von Krampfanfällen oder deliranten Symptomen treten im Alter jenseits des 50. Lebensjahres gehäuft auf. Insgesamt stehen die therapeutischen Massnahmen unter dem Leitgedanken von Schadensbegrenzung, Erhaltung von Würde und Autonomie.

Als late-onset Alkoholabhängige werden in der wissenschaftlichen Literatur Menschen mit einer spät einsetzenden Abhängigkeit bezeichnet. Diese Gruppe umfasst auch Betroffene mit einem sekundären oder symptomatischen Alkoholismus bei einer zugrunde liegenden somatischen oder psychiatrischen Erkrankung (z. B. Demenz oder Depression) oder bei einer zusätzlichen Abhängigkeitserkrankung, z. B. Medikamentenabhängigkeit. Die integrale Behandlung unter Berücksichtigung des Grundleidens hat hier Vorrang und ist i.d.R. eine suchtmedizinische-therapeutische Aufgabe.

Bei der späten Problemmanifestation scheinen Kritische Lebensereignisse eine grosse Rolle zu spielen. Deshalb sind die Betroffenen auch häufig sozial gut eingebunden, mit ausreichender psychischer Stabilität, was sich auf die Behandlungsprognose positiv auswirkt. Betroffen sind oft Frauen jenseits des 50. Lebensjahres, wobei repräsentative Prävalenzerhebungen noch ausstehen.

Quellen

  • Kutschke A. Sucht – Alter – Pflege. Praxishandbuch für die Pflege suchtkranker alter Menschen. Bern: Hans Huber Verlag; 2012.
  • Lieb B, Rosien M, Bonnet U, Scherbaum N. Alkoholbezogene Störungen im Alter – Aktueller Stand zu Diagnostik und Therapie. Fortschr Neurol Psychiatr 2008; 76: 75-85.

Informationen für Ärzteschaft

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