Fachpersonen: Alkohol und Medikamente
Beispiel 2: F+F-Umsetzung im Betrieb
Die Erarbeitung eines F+F-Konzepts wird sinnvollerweise im Rahmen eines Projekts durchgeführt. In der Praxis hat es sich bewährt, die folgenden fünf Phasen bei der Planung und Durchführung von Projekten in Organisationen zu berücksichtigen. Das Umsetzungsbeispiel unten erläutert den Prozess der Konzepterarbeitung anhand eines konkreten Beispiels eines mittelgrossen Alters- und Pflegeheims.
In einem ersten Schritt stellt sich die Frage, ob innerhalb des Betriebes die notwendigen Ressourcen, insbesondere Zeit und Personal vorhanden sind, um ein F+F-Konzept zu erstellen. Besonders in komplexen Fällen ist es sinnvoll, eine externe Fachperson für die Begleitung des Entwicklungsprozesses beizuziehen, idealerweise eine Fachperson aus dem Suchtbereich mit Know-how in der Organisationsentwicklung. Dann ist eine Auftragsklärung sinnvoll, die ein Vorgespräch zwischen der Betriebsleitung, eventuell einer Steuergruppe und der externen Fachperson beinhaltet. Bei der konkreten Planung zur Entwicklung eines F+F-Konzeptes sollten die folgenden Punkte berücksichtigt werden:
- Eine Bestandesaufnahme wird durchgeführt, die aufzeigt, welche Elemente des Konzeptes bereits vorhanden sind und welche Lösungsansätze schon bearbeitet wurden. Ebenso werden die Struktur und die Abläufe sowie die finanziellen, zeitlichen und personellen Ressourcen und das vorhandene Know-how festgehalten. All dies ist im Kontext äusserer Rahmenbedingungen, namentlich gesetzlicher Vorgaben oder Bedingungen der Finanzgeber zu sehen, welche den Gestaltungsspielraum weitgehend abstecken.
- Das Gesamtteam wird über Sinn und Zweck der F+F und die Projektgestaltung informiert.
- Die notwendige Steuergruppe/Projektleitung für den Entwicklungsprozess wird gebildet. Sie legt Meilensteine im Prozess der Konzeptentwicklung fest, welche als Orientierungspunkte beim schrittweisen Vorgehen dienen.
Die Ist-Soll-Analyse lässt sich in zwei Teile gliedern: In einem ersten Schritt wird eine gemeinsame Situationsanalyse durchgeführt. Diese erfolgt durch die Projektgruppe und/oder Steuergruppe, unter Berücksichtigung der verschiedenen Erfahrungen, des unterschiedlichen Know-hows sowie der Interessen und Bedürfnisse. Je nach Bedarf werden weitere Personen mit unterschiedlichen Funktionen innerhalb des Betriebs einbezogen. Im zweiten Schritt gilt es hinsichtlich der Wahrnehmung und Einschätzung problematischer Verhaltensweisen und Gefährdungen eine gemeinsame Haltung zu finden. Dies bezieht sich auch auf die grundsätzliche Einstellung gegenüber dem Sucht- und Genussmittelkonsum im Betrieb.
Aus dem Prozess der Haltungsfindung resultiert die Formulierung von Leitsätzen, welche als Basis für die spätere Festlegung verbindlicher Richtlinien und Regeln dienen. Schliesslich werden die Handlungsfelder für die Erarbeitung des F+F-Konzeptes benannt. Auf diese Weise wird erreicht, dass die F+F im ganzen Team abgestützt ist, was eine wesentliche Voraussetzung für ein erfolgreiches Gelingen ist.
Die Planung der Handlungsfelder umfasst vier wesentliche Punkte:
- Ausformulierung eines Handlungsplans «Früherkennung und Frühintervention», der verbindliche Vorgehensweisen im Prozess der Erkennung der Auffälligkeit bis zur geeigneten Intervention festlegt. Ebenso werden darin die Prozessabläufe mit den Fachstellen und nahe stehenden Personen geklärt (Festlegung der Rollen, Kompetenzen und Vorgehensweisen).
- Festlegung der internen und externen Zusammenarbeit (z. B. mit Suchtfachstellen, siehe Suchthilfe vermitteln) in Bezug auf gefährdete Klientinnen und Klienten.
- Formulierung einer Anleitung für Mitarbeitende zum Umgang mit gefährdeten Klientinnen und Klienten sowie ihnen nahe stehenden Personen. Die Anleitung beschreibt das Vorgehen praxisnah auf konkrete Art und Weise.
- Schulung der Mitarbeitenden, welche jeweils auf deren Funktion und fachliche Kompetenz abgestimmt wird (z. B. Schulungen betreffend Gesprächsführung, systematischem Beobachten oder Weiterleiten von Informationen).
Idealerweise wird dieses Vorgehen in das betriebliche Gesundheits- und Qualitätsmanagement eingebettet. In diesem Kontext muss auch der Umgang mit älteren Menschen, die Folgeschäden einer Abhängigkeit aufweisen, geregelt sein, bei denen es nicht mehr um Früherkennung oder -intervention, sondern um die Stabilisierung der gegenwärtigen Situation bzw. die Verhinderung einer Verschlechterung geht.
Die Umsetzung in den Handlungsfeldern erfordert eine Reihe von Massnahmen:
- Formulierung der Leitsätze, die anschliessend dokumentiert und abgelegt werden (evtl. Verknüpfung mit dem Gesundheits- und/oder Qualitätsmanagement)
- Erstellen der Ablaufplanung
- Erstellen und/oder Anpassen von Instrumenten wie der Eintrittsvereinbarung, des Beobachtungsbogens «Signale erkennen», der Gesprächsführung (siehe Kurzintervention)
- Klärung der Aufgaben und Kompetenzen der einzelnen Dienste, insbesondere auch mit den Stabsstellen
- Festlegung der internen und externen Zusammenarbeit
- Schulung der Mitarbeitenden in Beobachtung (Abgrenzung zur Interpretation) und Intervention, zugeschnitten auf deren Funktion und fachliche Kompetenz
- Durchführung einer Informationsveranstaltung mit der gesamten Belegschaft, unter Einbezug aller Bereiche, also auch der Hauswirtschaft, des Technischen Dienstes usw., über den künftig geltenden Ablauf und die Haltung des Betriebes
Bei Projektabschluss sollten die erarbeiteten Ergebnisse unter allen Mitarbeitenden und der Lernprozess als Teil der Betriebskultur («lernende Organisation») verankert sein. Die Prozessevaluation erfolgt unter Einbezug des Projektteams und weiterer Schlüsselpersonen.
Umsetzungsbeispiel F+F-Konzept
Anhand eines konkreten Beispiels wird im Folgenden die Entwicklung eines F+F-Konzeptes in einem Alters- und Pflegeheim – von der Anfrage der Leiterin bis zum Projektabschluss – erläutert. Die Zitate zu Erfahrungen mit einem solchen Entwicklungsprozess stammen von der Bereichsleiterin eines Spitexvereins aus der Stadt Zürich, der über 80 Mitarbeitende verfügt und rund um die Uhr Betreuung anbietet.
Die Leiterin eines Alters- und Pflegeheimes kontaktiert eine Suchtpräventionsstelle. Sie möchte ein Konzept entwickeln, um die Früherkennung und Frühintervention (F+F) im Betrieb zu stärken. Im telefonischen Kontakt ersucht die Leiterin Unterstützung bei der Erstellung des Konzeptes und bei der Einleitung der notwendigen Begleitmassnahmen. Sie hat gegenüber der Fachperson für Suchtprävention eine hohe Erwartungshaltung. Konkret zeigt sich dies darin, dass die Leiterin davon ausgeht, dass all die von der Suchtpräventionsstelle entwickelten, bereits bestehenden Unterlagen sich leicht für ihren Betrieb adaptieren lassen würden und die Fachperson der Suchtpräventionsstelle die Anpassung gleich übernehmen könne. Erste Ideen zur Konstituierung einer Projektgruppe sind vorhanden, angedacht sind die Vertretungen aus dem Kader des Pflege- und Heimbereichs sowie aus Stabsstellen und der Hotellerie.
«Der Alkoholkonsum im Spitexalltag hat viele Gesichter. Manchmal ist er ganz subtil.»
Die Ausgangslage präsentiert sich wie folgt: Das Heim ist eine klassische Dienstleistungsorganisation mit diversen Fachbereichen. Die Institution beschäftigt rund 80 Mitarbeitende und bietet Wohnplätze für 170 Personen. Menschen mit einer Abhängigkeit sind Teil des Klientels. Das Heim vertritt in seinem Leitbild dezidiert die Haltung, dass jeder Mensch einzigartig sei und in seiner Autonomie respektiert werden solle.
Die Suchtpräventionsfachfrau erfragt die Zielsetzung des Konzepts und erfährt, dass in letzter Zeit immer wieder Stationsleiterinnen über den enormen Personalaufwand klagten, ausgelöst durch Personen mit Abhängigkeiten (oft mit Folgeschädigungen). Zudem möchte sich die Heimleitung, angeregt durch eine Umfrage in Altersheimen, der Aufgabe der F+F stellen.
Die Fachfrau erläutert die Bedeutung eines individuellen, institutionell verankerten Konzeptes. Das Argument, dass Konzepte langfristig nur umgesetzt werden, wenn sie die Gegebenheiten des Betriebs berücksichtigen und von den Mitarbeitenden getragen werden, was ein partizipatives Vorgehen impliziert, überzeugt die Heimleiterin. Dies führt zur Erkenntnis, dass ein institutionsinterner Prozess notwendig ist, ebenso die Bildung einer hierarchieübergreifenden Projektgruppe. Gemeinsam wird eine Liste weiterer wichtiger Akteure zusammengestellt (Heimarzt, Sozialarbeiterin, Beratungsfachstelle usw.). So werden vernetzte Vorgehensweise angedacht und erste Gedanken entwickelt, wer mit welcher Funktion wann in den Prozess eingebunden werden sollte.
Die Heimleitung trägt gemeinsam mit der Pflegedienstleitung alle bedeutungsvollen hausinternen Dokumente zusammen. Eine erste Prozessphase führt zu einer gemeinsamen Verständigung über Zielsetzung und Vorgehensweise. Dieser und weitere Punkte werden in einer schriftlichen Vereinbarung zwischen Heimleitung und Suchtpräventionsfachfrau festgehalten. Ebenfalls festgehalten wird die Etappierung des Projektes.
Als unabdingbare Elemente eines F+F-Konzeptes bezeichnen sowohl die Auftraggeberin als auch die Suchtpräventionsfachperson:
- Formulierung einer gemeinsamen Haltung
- Klärung der internen und externen Zusammenarbeitspartner
- Entwicklung eines massgeschneiderten Handlungsplans
- Erstellung und Anpassung von Instrumenten wie Screeninginstrumente, Beobachtungsbögen Gesprächsführungsleitfäden usw.
- Erweiterung der notwendigen Kompetenzen aller involvierten Personen durch Schulung
- Regelmässige Informationsweitergabe an die gesamte Belegschaft über den Prozess und die Ergebnisse
- Kontinuierliche Überprüfung und Anpassung des Prozesses
- Einbettung in bereits vorhandene Konzepte (z. B. Gesundheitsmanagement)
Der Heimleiterin wird bewusst, dass dies Zeitressourcen benötigt und setzt diese für die Mitarbeitenden frei. Auch entsteht im Verlauf der ersten Gespräche bei ihr der Eindruck, dass die Projektleitung wohl besser vom Bildungsverantwortlichen übernommen werden sollte, da dieser über die notwendigen Kompetenzen für das Leiten und Gestalten von Veränderungen (Change-Management) verfügt.
Bewusst wird schrittweise vorgegangen und rollend geplant. Dies ermöglicht ein massgeschneidertes Vorgehen. Zudem kann die Organisation gezielt Beratungs-Know-how einkaufen. Im Intranet werden alle Mitarbeitenden über Absicht, Inhalt und ungefähre Dauer des Projekts informiert.
«So verschieden die Gesichter des Konsums sein können, so verschieden kann auch der Umgang in der Betreuung sein.»
Zu Beginn dieser Phase soll im Sinne eines Kick-off ein Tag zur Haltungsfindung stattfinden, an welchem nebst der Projektgruppe Mitglieder der Geschäftsleitung und Vertreterinnen und Vertreter der Basis teilnehmen. Das Ziel besteht darin, das derzeitige Problem zu analysieren und eine Vision zu formulieren, wohin der Weg gehen soll. Die Fachperson für Suchtprävention vermittelt dabei das Wissen zu «Sucht im Alter» sowie zur Wirkung von Interventionen. Im Anschluss daran moderiert sie die Analyse der Ist-Situation und begleitet die Formulierung von Leitsätzen für die Institution. Das Kernstück besteht in der der Konsensbildung über den Präventionsauftrag der Institution.
«In den Diskussionen merkten wir erst, wie unterschiedlich unsere Haltungen im Leitungsteam waren.»
Die Auseinandersetzung braucht Zeit und ist auch nicht abgeschlossen. Aber die Kernbotschaften der künftigen Leitsätze wurden festgelegt. Zur Diskussion stehen zum Beispiel:
- Wir gehen davon aus, dass eine Suchterkrankung die Autonomie einer Person einschränkt.
- Wir fühlen uns verpflichtet, Menschen mit problematischen oder abhängigen Konsummustern anzusprechen und ihnen das Recht auf den Zugang zu einer Behandlung zu ermöglichen, sofern dies erwünscht ist.
- Bei Bewohnerinnen und Bewohnern mit problematischem Alkoholkonsum intervenieren wir mit dem Ziel einer Verhaltensveränderung (vgl. z. B. Transtheoretisches Modell).
- Bei Bewohner:innen mit einer chronifizierten Abhängigkeit ist das Pflegeziel die Stabilisierung der Situation und damit einhergehend die Schadensminderung.
Zum Schluss des Haltungsfindungsprozesses werden im Projektteam die künftigen Visionen abgesteckt und weitere Arbeitsschritte festgelegt.
Die Arbeit wird auf einzelne Arbeitsgruppen aufgeteilt. Eine Arbeitsgruppe soll sich der definitiven Ausformulierung der Leitsätze widmen. Ein weiteres Handlungsfeld ist die Erarbeitung einer Ablaufplanung. Hier stehen als Prototyp erstellte Unterlagen aus der Suchtprävention zur Verfügung. Eine weitere Arbeitsgruppe widmet sich den Instrumenten und eine andere konzipiert die Schulung. Der Führung werden die Aufgaben rund um die Zusammenarbeit delegiert.
«In solch komplexen Situationen braucht es Unterstützung von aussen.»
In einer längeren Phase arbeiten die Arbeitsgruppen selbstständig. Auf Führungsebene wird dem Aspekt der Zusammenarbeit nachgegangen und ein Treffen mit dem Heimarzt, der Alkoholberatungsstelle sowie den Sozialen Diensten vereinbart. Ebenso erfolgt die Klärung der Schnittstellen. Auch im Netzwerk der Heime findet das Thema seinen Platz und schlussfolgernd werden Abmachungen zur Zusammenarbeit getroffen.
Die Schulung für die Mitarbeitenden wird vorbereitet, wobei Teile davon – wie beispielsweise Gesprächsführungstools – eingekauft werden. Auch der regelmässigen Information schenkt die Projektgruppe Bedeutung und nutzt dazu das hausinterne Intranet. So erhalten alle Mitarbeitenden Zugang zu den wichtigsten Ergebnissen.
Die Projektgruppe wünscht eine Begutachtung der erstellten Produkte durch die externe Begleitung und es wird ersichtlich, dass die Identifikation mit der Thematik gestiegen ist. Auch der Zuwachs an Wissen und Handlungskompetenz zeigt sich eindrücklich.
Die Suchtpräventionsfachperson begleitet den Prozess fortlaufend und formulierte Erkenntnisse, womit sie das Ziel einer lernenden Organisation verfolgt. Die betriebsintern vorhandenen Ressourcen können somit ergänzt werden und ermöglichen es, betroffene Klientinnen und Klienten kompetent und in ihrem gewohnten Umfeld zu begleiten.
«Der Prozess hat eine ganz andere Wahrnehmung der Mitarbeitenden ausgelöst. Dadurch, dass wir eine gemeinsame Haltung bezüglich des Einkaufs von Alkohol im Handbuch verankern konnten und das Ablaufschema an der Schulung eingeführt wurde, kehrte Entspannung ein.»
In Anschluss an die geleistete Zusammenarbeit finden sowohl Informationsveranstaltungen als auch Schulungen statt. Einerseits werden all die erstellten Unterlagen und die künftig geltenden Handlungsabläufe präsentiert, andererseits erwerben gezielt ausgewählte Personen Handlungskompetenzen zur systematischen Beobachtung und Intervention.
Die Projektgruppe evaluiert das Projekt und legt Verantwortlichkeiten für das Hüten des Themas fest. So erhält die (ehemalige) Projektleiterin, welche im betrieblichen Alltag unterschiedliche Positionen besetzen kann, den Auftrag, in einem Jahr die Unterlagen erneut zu prüfen und allenfalls anzupassen. Auch regelmässige Schulungen für neu eintretende Mitarbeitende gehören in ihren Verantwortungsbereich.
Die Mitarbeitenden fühlen sich nun gut vernetzt, kennen die Instrumente, die ihnen in ihrer Arbeit zur Verfügung stehen und wissen, welche Fachpersonen bei Bedarf beigezogen werden können. Ebenso sind ihnen die einzelnen Vorgehensschritte und die Grenzen des Machbaren bekannt.